Die Gesellschaft für Sicherheitspolitik (GP) unter ihrem Sektionsleiter Ulrich Feldmann und die Europa-Union Bad Kissingen haben zu einem außenpolitischen Vortrag in das Parkwohnstift geladen. Das Thema lautete: „Frankreich – unser (un-)bekannter Nachbar“.
Referent Michael Hellerforth beherrscht die französische Sprache, studierte sowohl in Deutschland als auch in Frankreich Politikwissenschaften, durchlief sowohl die deutsche als auch die französische Generalstabsausbildung und war in wechselnden Verwendungen in beiden Nationen im militärischen Bereich eingesetzt. Er ist mit einer Französin verheiratet.
Deutsche haben ein ziemlich ungenaues Bild von unserem westlichen Nachbarn, erläuterte der Referent. Die Ursachen liegen in unserer unterschiedlichen Geschichte. Allem rationalen Denken voraus gehen in beiden Völkern Vorstellungen, die wie unumstößliche Glaubenssätze wirken und uns daran hindern, den anderen so zu sehen, wie er wirklich ist, erklärte der Referent.
Dieses verkürzte Denken der Deutschen über Frankreich war Kern und Anliegen des Vortrags. Was Deutsche ausklammern: Frankreich ist eine Großmacht, die wir auf den ersten Blick nicht so wahrnehmen. Tatsächlich hat Frankreich aufgrund seiner Überseedepartements und seiner Lage zwischen Mittelmeer und Atlantik viele unerwartete Facetten. Frankreich ist die einzige verbliebene Nation mit Besitzungen auf allen Kontinenten. Aufgrund dieser Situation ist Frankreich ein globaler Akteur und muss entsprechend politisch agieren. Diese Spielregeln der Diplomatie beherrscht das noch immer im Selbstverständnis imperiale Frankreich auch noch im 21. Jahrhundert. Diese Haltung hat Deutschland völlig abgelegt. Frankreich ist eine stolze Nation.
Frankreich ist flächenmäßig doppelt so groß wie die alte Bundesrepublik. Frankreich ist weniger verstädtert als Deutschland. Die französische Volkswirtschaft ist schwächer als die deutsche jenseits des Rheins und bei weitem nicht in dem Maße industrialisiert wie unsere Bundesrepublik. Aber, die Franzosen leben aufgrund ihrer Art, das Leben anzugehen, länger. Sie haben deutlich mehr Privatvermögen. Vermutlich sind es die beiden verlorenen Kriege, Erster Weltkrieg und Zweiter Weltkrieg, die sich hier niederschlagen.
Die Befugnisse eines Präsidenten in Frankreich gehen weit über die Möglichkeiten eines deutschen Bundeskanzlers hinaus.
Die Regionen in Frankreich sind im Grunde Verwaltungsebenen ohne staatliche Eigenständigkeit. Theoretisch kann der Präsident bis auf die unterste kommunale Ebene, das Bürgermeisteramt, ohne Verzögerung und mit Anspruch auf unverzügliche Umsetzung durchentscheiden. In Deutschland undenkbar. Unsere Landesfürsten wissen sich gegenüber einer Bundesregierung einzeln und im Länderparlament durchzusetzen, sie agieren im Bundesrat auf Augenhöhe. Unsere Verfassung gibt ihnen dazu die Handhabe. Unsere Entscheidungsprozesse sind vielleicht gründlicher durchdacht, aber eben auch zäher und langwieriger. Das Temperament der Franzosen ist rascher und zupackender.
Referent Michael Hellerforth wörtlich: „Die französische Demonstrations- und Streitkultur, einschließlich Straßenschlachten und offenem Ungehorsam, ist ein notwendiges Regulativ gegen eine sehr starke Zentralgewalt. Die französische Polizei tritt mit hohem militärischem Potenzial auf. Der Zentralstaat sorgt dafür, dass die staatlichen Institutionen, auch in Übersee, ‚aus einem Guss‘ bleiben.“
Die französische Elite wird an den Grandes Ecoles ausgebildet. Strenge Zugangsvoraussetzungen müssen erfüllt werden, um dort zu bestehen. Diese Elite ist praktisch vom Rest der Bevölkerung abgekoppelt, so Michael Hellerforth. In Deutschland ist die Gesellschaft durchlässig. Berufliche Fähigkeiten und Charakter sind auf allen Ebenen das Kriterium für den sozialen Aufstieg.
In Frankreich muss die Zugehörigkeit zur Oberschicht immer wieder neu mit intellektueller Leistung des Nachwuchses aus der Oberschicht erbracht werden. Von klein auf erleben die Kinder einen Schuldrill in den herausgehobenen Schulen, den wir in Deutschland nicht kennen.
Denkt man an Paris, denkt man auch an die Banlieues, jene trostlosen Vorstädte rund um die Hauptstadt. Auch das ist Frankreich. Die Vorstädte sind das Ergebnis einer Kombination aus sozialem Experiment und akuter Wohnungsnot nach dem Zweiten Weltkrieg. Masseneinwanderung aus Algerien, die soziale Not und die organisierte Kriminalität sorgen für regelmäßige Ausschreitungen. In den Banlieues hat sich eine eigene Vorstadtkultur entwickelt, die durch Jugendgangs, organisierte Kriminalität und durch Ablehnung der bürgerlichen Werte geprägt ist. „Trotzdem steht die Mehrheit auch der gettoisierten Bevölkerung zu Frankreich und zu seinen Werten“, so Michael Hellerforth.
Frankreich setzt stark auf Atomstrom, entwickelt und baut neue Reaktoren. Auch alternative Energiegewinnung wird gefördert, jedoch nicht in diesem Umfang wie in Deutschland. Einer der Gründe, weshalb Frankreich gute Beziehungen zu Ländern in Afrika pflegt, ist der Zugang zum Brennstoff Uran für den Betrieb der zahlreichen Atomkraftwerke. Im Vergleich zu Deutschland kostet der Strom in Frankreich ungefähr die Hälfte.
Frankreich hat den russischen Gastransport in die Bundesrepublik immer als ein Risiko betrachtet und Deutschland vor der Gefahr gewarnt, in die Abhängigkeit Russlands zu geraten. Wie recht Frankreich im Nachhinein hatte, sehen wir heute.
Frankreich ist stark im Indo-Pazifik präsent, betrachtet die chinesische Politik mit Sorge und arbeitet mit USA, Großbritannien, Australien, Neuseeland und Kanada zusammen, um China einzudämmen.
Auch Frankreich als europäische Atommacht wurde diskutiert. Sind es zukünftig die Franzosen, die den Atomschirm über unser Land aufspannen, wenn sich die USA aus der Nato zurückziehen? Ein Grund mehr, die Sicherheit Europas und die Verteidigung unserer Werte gemeinsam, Franzosen und Deutsche, abzustimmen.
Dieter Galm